Zu Hasan Severs Roman „Wasserrauschen“ 

Wasserrauschen

Halil hört eines Tages unter der trockenen Erde in Anatolien das Wasser rauschen. Doch wie tief man auch bohrt – es findet sich kein Wasser. Hat der Dorftrottel dies nur geträumt? Jahre später, Halil ist längst verschwunden, wachsen dort viele Obstbäume – das Wasser haben Menschen zugeleitet.

Wasser, in Bewegung, rauschend, lässt uns durch den Roman gleiten.  Erzählt wird von einer Frau und einem Mann, Feride und Ferdi, die sich nach Jahren wieder begegnen. Sie verbringen drei Tage zusammen in Zürich.

Begegnet waren sie sich an der Universität in Ankara, wo Feride, die Eigenwillige, sich für das ausgefallene Studium der Hethitologie entschieden hat. Ferdi studiert an der Technischen Universität. „Seit jenem Tag waren Feride und Ferdi Freunde. Ein kleiner Spaltbreit nur fehlte zur Liebe. Manchmal glaubten sie, den Spalt überwunden zu haben, manchmal fühlten sie sich sehr weit von der Liebe entfernt.“ Als die Polizei bei Unruhen an der Universität  eingreift, werden die beiden verhaftet. Feride kommt nach einer Woche aus dem Gefängnis, Ferdi nach einem halben Jahr; ein Prozess steht ihm bevor.

Weshalb sie danach getrennte Wege gingen, Ferdi ins Exil ging und Feride in der Türkei blieb, wird im Verlauf der Geschichte deutlicher.

Die Gespräche der beiden bei ihren Gängen durch Zürich und auf der Rundfahrt über den Zürichsee sind geprägt von Erinnerungen, auch an vertraute Musik und Gedichte, von existenziellen Gedanken, von Unausgesprochenem, von Nähe und immer wieder auch Fremdheit. Eine grosse Rolle spielt das Wasser, die Limmat, der Zürichsee und die Erinnerung an die Geschichte von Halils Brunnen.


Eingeflochten in die Geschichte der beiden sind Geschichten von anderen, die alle irgendwie in der Fremde sind – der Kellner in der Bodega, der Kapitän des Schiffes, ein Sterbender in einer Klinik am Zürichsee.

Die Momentaufnahmen dieser drei Tage, die zugleich auch Bestandsaufnahmen ganzer Leben sind, hat mich  gerade im Unabgeschlossenen überzeugt. Die Übersetzung scheint professionell,  liest sich flüssig.

Der Autor hat ein feines Gespür für Nuancen in der Begegnung von Menschen, und dabei sind auch die Geschlechterrollen aufgebrochen.

Es gelingt dem Autor, das Ungesagte nachhallen zu lassen. Wie genau es Feride als unabhängiger, beruflich erfolgreicher Frau in der Türkei ergangen ist, erfahren wir nur in Andeutungen. Und wir können nur ahnen, wie Verfolgung und das lange Exil Ferdi geprägt haben. „Es war“, heisst es bei der Begegnung mit Feride,  „als hätte er in einem endlosen Meer, nach endlos langer Zeit zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen.“ 

Zürich, 9.2.21, Chudi Bürgi